Zur derzeitigen Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes in Europa

Atomwaffen
Atomwaffen

Kurzvortrag von Dr Dirk-Michael Harmsen

auf dem 5. Kirchlichen Aktionstag gegen Atomwaffen
am 25. Juni 2022 vor dem Haupteingangstor zum Fliegerhorst Büchel

Am 27. Februar 2022, vier Tage nach Beginn des russischen Angriffs in der Ukraine, sagte der russische Präsident Wladimir Putin in einer Fernsehansprache: „Die Spitzenpersönlichkeiten der führenden Nato-Staaten lassen aggressive Äußerungen gegen unser Land zu, deshalb befehle ich dem Verteidigungsminister und dem Chef des Generalstabs, die Streitkräfte der Abschreckung der russischen Armee in ein besonderes Regime der Alarmbereitschaft zu versetzen“. Das war eine unverhohlene Drohung, Atomwaffen einzusetzen, wenn es schlecht für die Russische Föderation läuft.

Ich gliedere meinen Kurzvortrag in zwei Teile:

  1. Zur Vorgeschichte des seit dem 24. Februar 2022 tobenden Ukrainekrieges.
  2. Zur derzeitigen Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes in Europa.

Im Zurückblicken auf die vergangenen 30 Jahre internationaler Politik wird immer klarer, dass die US-Administrationen Vieles unternommen haben, um ihre hegemoniale Stellung in der Welt nicht zu verlieren. Was das Verhältnis zu Europa anbetrifft, sollten die europäischen Anstrengungen für eine „Gemeinsame Sicherheit“ zwischen der Bundesrepublik Deutschland bzw. der Europäischen Union und Russland nach Möglichkeit unterbunden, Zwietracht zwischen den europäischen Staaten gestreut und im letzten Jahrzehnt immer offener wirtschaftlicher Druck auf Russland durch wirtschaftliche Sanktionen ausgeübt werden. Das wirksamste Mittel hierfür war die fortgesetzte Osterweiterung der NATO bis hin zum Versprechen der NATO-Mitgliedschaft an die Ukraine und an Georgien durch die Bush-Administration im Jahr 2008.

George Kennan, US-amerikanischer Historiker und Diplomat war einer der ersten nachdrücklichen Warner vor einer Osterweiterung der NATO. Im Februar 1997 schrieb er in einem Gastbeitrag für die New York Times, dass die Entscheidung der Regierung Clinton, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, „der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik“ seit dem Ende des Kalten Krieges sei. Zuvor hatte der US-Regierungsberater Zbigniew Brzezínskii gefordert, die USA müsse als einzige Supermacht ihr Potential nutzen, um eine globale Sicherheitsordnung zu schaffen. Dazu gehöre auch, jede Macht zu neutralisieren, die sie dabei ernsthaft behindern könnte. Auf dem „eurasischen Kontinent“ erscheint Russland als solcher Gegner. Die Herauslösung der Ukraine aus dem russischen -Einflussbereich reduziere Russland zu einer ungefährlichen -Regionalmacht.

Die klandestinen Waffenlieferungen und die finanziellen milliardenschweren Unterstützungen der USA an die Ukraine sowie die Bemühungen der Europäischen Union, die Ukraine in das EU-Wirtschaftssystem zu integrieren, führten dazu, dass sich die russische Führung in den zurückliegenden 10 Jahren mehr und mehr durch die westlichen Avancen in ihrem Herrschaftsbereich bedrängt fühlte.ii

Das am 24. März 2021 unterzeichnete ukrainische Regierungsdekret Nr. 117/2021 über die De-Okkupation und Rückeroberung der Krim und der Donbas-Regioniii führte im April 2021 zur Verlegung russischer Truppen an die Grenze zur Ukraine.

Am 10. November 2021 unterzeichneten die Außenminister der USA und der Ukraine die neue Charta der strategischen Partnerschaft zwischen beiden Ländern. In der Charta bekräftigen die USA ihre Unterstützung der Souveränität der territorialen Unversehrtheit und Unabhängigkeit der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen, einschließlich der Krim.

Ich bin der Meinung, dass die beiden hier geschilderten Ereignisse im Jahr 2021 maßgeblich die Entscheidung Putins beeinflusst haben, jetzt Krieg gegen die Ukraine zu führen, der eigentlich ein Stellvertreterkrieg ist zwischen USA und deren NATO-Mitgliedsstaaten einerseits und Russland andrerseits.

Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes

Ich komme zum zweiten Teil meines Kurzvortrags, zur derzeitigen Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes in Europa.

Zu Beginn dieser Woche, am 20. Juni 2022, fand anlässlich des Ersten Treffens der Vertragsstaaten (1 MSP) des Atomwaffenverbotsvertrags (AVV = TPNW) in Wien die vierte „Internationale Konferenz über die humanitären Auswirkungen von Kernwaffen (HINW)“ statt in einem Kontext der Angst, aber auch der Hoffnung. Angst, weil in jüngster Zeit der Einsatz von Atomwaffen angedroht wurde und die Atomwaffenarsenale weiter modernisiert und ausgebaut werden, aber auch Hoffnung, weil der Vertrag über das Verbot von Atomwaffen (TPNW) in Kraft getreten ist.iv

Wichtige Ergebnisse dieser Konferenz finden sich in der Zusammenfassung durch den Vorsitzenden der Konferenz, Thomas Hajnoczi.v Die wichtigsten für unsere Fragestellung lauten:

  • Die Risiken von versehentlichen, irrtümlichen, unbefugten oder absichtlichen Atomwaffenexplosionen haben aus politischen, strategischen und technologischen Gründen ein nie dagewesenes Niveau erreicht.
  • Die Ausbreitung kleinerer taktischer, besser einsetzbarer Atomwaffen ist beunruhigend. Schon die Detonation einer einzigen so genannten kleinen Atomwaffe hätte verheerende und verstärkende Auswirkungen und birgt darüber hinaus ein sehr hohes Risiko, eine Eskalation zu einem begrenzten oder totalen Atomkrieg auszulösen.
  • Die von führenden russischen Politikern ausgesprochene Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen zeigt, wie real dieses Risiko heute ist und unterstreicht die Fragilität eines Sicherheitsparadigmas, das auf der Theorie der nuklearen Abschreckung beruht. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine unterstreicht die Tatsache, dass Atomwaffen größere Kriege nicht verhindern, sondern nuklear bewaffnete Staaten dazu ermutigen, Kriege zu beginnen.
  • Ein Krieg zwischen atomar bewaffneten Staaten ist nicht nur möglich, sondern hat bereits mehrfach stattgefunden, z.B. auf dem indischen Subkontinent. Wir wissen, dass ein Atomkonflikt keine abstrakte Gefahr ist, sondern eine sehr reale. Angesichts der regionalen und globalen Spannungen gibt es heute mehrere plausible Szenarien in verschiedenen Teilen der Welt für einen Atomkonflikt.
  • In der heutigen Welt, in der es kein gemeinsames Verständnis von Regeln, Normen und Standards gibt, erhöhen Atomwaffen die Ungewissheit und Unsicherheit weiter.
  • Substanzielle und nicht nur deklaratorische Maßnahmen zur Risikominderung sind sicherlich kurzfristig erforderlich, aber nur die Abschaffung von Atomwaffen bietet eine wirksame Prävention.
  • Die Theorie, dass nukleare Abschreckung einen Atomkrieg verhindern kann, wird außerdem durch die Auswirkungen des technologischen Fortschritts und die Integration neuer Technologien in Kernwaffensysteme und Entscheidungsstrukturen weiter in Zweifel gezogen.
  • Sicherheit auf nuklearer Abschreckung aufzubauen, ist nicht nachhaltig. Wenn die nukleare Abschreckung versagt, wird sie mit katastrophalen Auswirkungen versagen. Viele sehen ein logisches Problem darin, wie eine Waffe, die den Fortbestand der Zivilisation bedroht, als Grundlage für Sicherheit dienen kann.

Meine persönliche Einschätzung zur derzeitigen Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes in Europa lautet: Sollte Putin im Verlauf dieses Krieges die Staatlichkeit seines Landes als existentiell gefährdet einschätzen, so ist die Wahrscheinlichkeit für den Einsatz sog. taktischer Atomwaffen nicht mehr zu vernachlässigen. Das Gleiche gilt, wenn es – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – zu einem kriegerischen Akt kommt, der von den beteiligten NATO-Staaten als Angriff interpretiert wird. Die Gefahr für einen nuklearen Weltkrieg ist sehr viel unwahrscheinlicher, nachdem die fünf im UN-Sicherheitsrat vertretenen Vetomächte Anfang Januar 2022 noch einen gemeinsamen Beschluss hierzu verabschiedet hatten.vi

i Zbigniew Brzeziński 1997. The Grand Chessboard. American Primary and Its Geostrategic Imperatives. www.cia.gov/library/abbottabad-compound/36/36669B7894E857AC4F3445EA646BFFE1_Zbigniew_Brzezinski_-_The_Grand_ChessBoard.doc.pdf;

Zitat aus Fußnote 2: Das Buch handelt in großen Teilen vom geostrategischen Gewicht der

als »mittlerer Raum« bezeichneten postsowjetischen Staaten in Osteuropa.

Brzezińskis Ausführungen lesen sich wie ein Drehbuch der Konfliktentwicklung.

Er fordert,

»[…] eine spezifische US-Politik zu formulieren, die in der Lage ist, die […] Verhältnisse auszubalancieren, mitzubestimmen und/oder unter Kontrolle zu bekommen, um unverzichtbare US-Interessen zu wahren und zu stärken, und eine umfassendere Geostrategie zu entwerfen, die auf globaler Ebene den Zusammenhang zwischen den einzelnen Feldern der amerikanischen Politik herstellt.

[…] den entschlossenen Umgang mit geostrategisch dynamischen Staaten und den behutsamen Umgang mit geopolitisch katalytischen Staaten entsprechend dem Doppelinteresse Amerikas an einer kurzfristigen Bewahrung seiner einzigartigen globalen Machtposition und an deren langfristiger Umwandlung in eine zunehmend institutionalisierte weltweite Zusammenarbeit. Bedient man sich einer Terminologie, die an das brutalere Zeitalter der alten Weltreiche gemahnt, so lauten die drei großen Imperative imperialer Geostrategie: Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern und ihre Abhängigkeit in Fragen der Sicherheit zu bewahren, die tributpflichtigen Staaten fügsam zu halten und zu schützen und dafür zu sorgen, dass die ›Barbarenvölker‹ sich nicht zusammenschließen«.

ii Eine detaillierte Darstellung der zurückliegenden politischen Entwicklungen bis in die jüngste Gegenwart findet sich bei Czada, Roland 2022, „Realismus im Aufwind? Außen- und Sicherheitspolitik in der ‚Zeitenwende‘“, Leviathan, 50. Jg., 2/2022, S. 216 – 238, DOI: 10.5771/0340-0425-2022-2-216

iii Decree of the President of Ukraine No. 117/2021. https://seemorerocks.is/decree-of-the-president-of-ukraine-no-117-2021/

iv Ray Acheson and Allison Pytlak, Report on the Fourth Conference on the Humanitarian Impact of Nuclear Weapons, https://reachingcriticalwill.org/disarmament-fora/hinw/vienna-2022/report

v Thomas Hajnoczi, Chair’s Summary, https://www.bmeia.gv.at/fileadmin/user_upload/Zentrale/Aussenpolitik/Abruestung/HINW22/Chair_Summary.pdf

vi Joint Statement of the Leaders of the Five Nuclear-Weapon States on Preventing Nuclear War and Avoiding Arms Races (03 January 2022), https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2022/01/03/p5-statement-on-preventing-nuclear-war-and-avoiding-arms-races/